Es fröstelte das Land

Maria Porten
Es fröstelte das Land 2014

für Vokalquartett SATB und Streichquartett (2014)
Auftrag des Musikpodiums der Stadt Zürich
zum 100. Geburtstag von Gerhard Meier
Text: Gerhard Meier, aus "Kübelpalmen träumen von Oasen"

1. Girlanden, 3m
2. Advent, 2m30
3. An den Rändern blühen die Gräser (oder: Die Platte hat einen Sprung), 3m
4. Der Mann mit dem Storchengang, 5m30
5. An die Nachgeborenen, 7m



Uraufführung

26.5.17, Helferei Grossmünster Zürich
Musikpodium der Stadt Zürich
"Haschen nach Wind" - Konzert zum 100. Geburtstag von Gerhard Meier
Liveaufzeichnung durch Schweizer Radio SF2 Kultur

Mitwirkende:

Vokalensemble larynx
Jakob Pilgram, Leitung und Tenor

Amneris Quartett
David Sonton Caflisch (a.G.), Violine
Damian Elmer, Violine
Wu Di, Viola
Ioanna Seira, Violoncello




Gesamtdauer

21m





Werkkommentar


Gerhard Meier (1917-2008) und die Musik:

"Die Welt ist letztlich ein Klang. Vielleicht bin ich ein verhinderter Musiker, obschon ich theoretisch von Musik nichts verstehe, aber ich habe ein Leben lang mit der Musik gelebt. Die Musik ist strukturiert wie die Welt, hat also mit Wiederholung und Anklängen zu tun. Und das Musikalische, das in unserem Lebenslauf, in den sogenannten Schicksalen anklingt, ist etwas sehr Bewegendes, auch wenn wir es nicht bewusst als musikalisches Phänomen erleben. Darum sind wir im Grunde genommen alle auf Musik eingestimmt, der eine auf das Jodellied, der andere auf eine Mazurka, wieder ein anderer auf Gustav Mahlers Neunte. Die Musik spielt eine ungeheure Rolle, weil in der Musik, in den Tonfolgen drin so viel Unsagbares dann aber doch irgendwie offenbar wird. In keiner anderen Kunstgattung ist so viel zu erfahren wie aus der Musik. Musik ist gewissermassen jenes Unsagbare, das uns zusteht, sagbar zu machen über die Töne. Wir können es dann nicht in die Verbalität umsetzen, das ist unmöglich, aber wir haben doch das Gefühl: So, jetzt haben wir es wieder einmal gehört, wieder einmal erlebt, jetzt wissen wir etwas mehr, obschon wir substantiell nicht mehr wissen. Aber es gibt doch das Gefühl, etwas verstanden zu haben, das uns sonst nirgendwo hätte verständlich gemacht werden können. Einzig die Musik schafft es. Die Kreisbewegungen, die Wiederholungen, die machen die Schöpfung und das Leben aus... So sind wir von Spiralen und Kreisen und Anklängen umgeben, erfüllt, und wir spüren in der Musik, im Lied, in einem Tonstück immer wieder mit Freude die Anklänge auf. Jedes Mal, wenn ein Refrain kommt, ein Anklang, eine Wiederholung, möglichst nicht haargenau gleich, sind wir glücklich. Das ist ganz seltsam - auch etwas Tröstliches, der Kreis: Es schliesst sich dann, zerflattert nicht, geht nicht verloren. Die Kreisbewegung hat wahrscheinlich etwas Tröstliches an sich, wobei man das nicht einfach pflegen darf. Die Welt heisst nicht nur Trost, sie heisst auch das Gegenteil. Grausamkeit ist ebenso viel da, und Unvermögen, diese Sache überhaupt zu beschreiben." (S.74f)

"Im engeren Kreis unserer Bekannten habe ich erlebt, dass die Witwen am Leichenmahl ihrer Männer mit feuchten Fingern über ein Burgunderglas gestrichen haben, und das hat mich unauslöslich mit diesem Ton durchtränkt. Dieser Ton hat ausserdem etwas mit der Glaswelt, mit der Kristallwelt zu tun, die wiederum etwas zu tun hat mit dem "Sneewittchenland". Im Märchen von Schneewittchen kommt ja auch jener kuriose Glassarg vor. Das ist etwas Seltsames, ich glaube, man kann Märchen nicht ganz begreiflich machen, nicht ganz verbalisieren. Mit Caspar David Friedrichs "Böhmischer Landschaft" hat sich dann der Glasklang mit dem Glasland zu einer böhmischen Landschaft zusammengetan, die sich vermutlich hinter den sieben Bergen befindet. Ich bin dann zu diesem verrückten Bild gekommen, dass Gott mit trockenem Finger dem Spiralnebel im Sternbild der Jagdhunde entlangstreicht, dass es widerhallt, bis an die Ränder der Welten. Und dass gerade von dorther der kosmische, der grosse Klang kommen konnte. Schostakowitsch hat mir mit vielen seiner Stücke neue Klangbilder beschert, über die ich bis heute glücklich bin. Die vierte Sinfonie war für mich in dem Sinn etwas Unerhörtes, als sie sich scheinbar chaotisch und laut gebärdet, um in einer Stille zu enden, wie ich sie vorher noch nie erlebt hatte. Der Schluss dieses Musikstückes hat mich über lange, lange Zeit hingeleitet, auch in entscheidenden Augenblicken meines Schreibens. Mit Schostakowitsch habe ich mindestens zwei, drei Jahre gelebt, das heisst, ich war süchtig auf ihn und habe fast keine andere Musik mehr angehört. Dann konnte ich ihn eine Zeitlang überhaupt nicht mehr hören, und jetzt höre ich gelegentlich wieder Stücke von ihm. Ich habe immer mit Texten, mit Bildern, mit Tonfolgen gelebt, und dieses Gemisch hat sich mit meinem Alltag verwoben und hat dann mein Lebensgefühl oder meinen Lebensklang ergeben. Das ist für mich nie etwas Gesuchtes gewesen und ist dann auch automatisch in meine Schreibe hineingeraten. Der Text, das Bild, die Tonfolge haben für mich immer zum ganz gewöhnlichen Alltag gehört." (S.358)

Beim Besuch auf der Insel Rügen, dem Heimatland seiner Mutter, stösst Gerhard Meier auf den Begriff "Land der Winde":

"Der Wind hat für mich seit jeher erotische Qualitäten, aber in erster Linie hat er doch mit unserem Hauch, mit unserem Atem zu tun. Ein paar Minuten ohne Wind, und sämtliche Wesen aus Fleisch und Blut sind nicht mehr teilhaftig des Geschehens hier auf Erden. In diesem Sinn ist er ein Lebensspender wie die Sonne. Und er bringt uns die Wolken, er bewegt die Bäume, und er macht aus den Bäumen manchmal sogar Dirigenten, die quasi die Weitenmelodie dirigieren, das Weitenlied oder das Lied von der Erde. Er kräuselt die Meere, die Seen, die Flüsse. Er macht aus dem Grasland einen Ozean, mit Welten darauf, stellt eine Grasbrandung her, bringt die Wälder zum Singen, und er greift auch in die Blusen der Mädchen. So ist der Wind etwas Lebensspendendes, etwas Erotisches ohnegleichen. Er bringt uns nicht nur die Düfte, er nimmt sie uns auch weg. "Vom Winde verweht". Er verweht ganze Generationen, ganze Reiche, und andererseits spendet er Leben. Da haben wir wieder diese Paradoxie, diese zwei Seiten. Für mich ist der Wind etwas Grandioses." (S. 470)

"Das Lebensgefühl, das meinem Schreiben zugrunde liegt, ist nicht sehr populär und wird wenig praktiziert. Wer glaubt heute an Müdigkeit und Schwäche? Und wer lässt sich noch auf das Spirituelle, auf das Geistig-Religiöse ein? In diesem Sinne finde ich schon etwas Befremdliches in meinem Schreiben drin, worüber ich gar nicht unglücklich bin. Ich bin sehr dankbar, dass das so hat passieren dürfen - ich habe ja die Sache nicht bewusst angesteuert. Zuletzt habe ich im "Land der Winde" ankommen dürfen, dort, wo meine Mutter herstammt. Das ist doch gewissermassen ein Heimfinden, und was kann uns Besseres passieren? Ich bin froh, dass ich noch 33 Jahre meines Lebens sogenannt redlich gearbeitet habe, unter gewissen Schwierigkeiten natürlich, doch immerhin. So konnte ich etwas ruhiger dieser scheinbar unnützen Tätigkeit obliegen, die man Schreiben nennt". (S. 484)

Texte zusammengestellt von Maria Porten, aus: Gerhard Meier, Werner Morland: Das dunkle Fest des Lebens. Amrainer Gespräche. Köln/Basel 1995







Partitur
ZU ERGÄNZEN











































Impressionen aus den Proben zur Uraufführung in der Helferei des Grossmünsters Zürich









Impressionen aus der Uraufführung in der Helferei des Grossmünsters Zürich