11. Juli 1995 - Srebrenica

Maria Porten
11. Juli 1995 - Srebrenica 2003


für Vokalquartett SATB, Blfl, Vle, Vc, Perc (Vib, kl.Tr), Elektronik (2003)
Text: Behaudin Trakic / Maria Porten



Uraufführung

30. 8. 2003 Zürich Wollishofen, Kirchgemeindehaus
mit Claudia Dieterle (S), Eva Nievergelt (A)
Javier Hagen (T), Norbert Günther (B)
Astrid Knöchlein (Blfl), David Newman (Vl)
Edit Hajdu-Irmay (Vc), Katsunobu Hiraki (Perc)
Pius Morger (El), Jürg Henneberger (Ltg)



Wichtige Folgeaufführungen

11. 7. 2005, Zürich, ETH Zentrum, Semper-Aula,
zum 10jährigen Gedenken an das Srebrenica-Massaker
mit Claudia Dieterle (S), Andrea del Favero (A)
Javier Hagen (T), Ruben Drole (B)
Isabelle Gichtbrock (Blfl), Deborah Furrer (Vl)
Edit Hajdu-Irmay (Vc), Katsunobu Hiraki (Perc)
Pius Morger (El), Jürg Henneberger (Ltg)



Dauer

15m




Werkkommentare

Acht Jahre danach. Am 11. 7.2003 trafen sich Tausende von Muslimen auf dem im Entstehen begriffenen Friedhof von Potocari und beerdigten einige neu identifizierte Opfer des Massakers von Srebrenica. (Von 5 000 der 7 000 Opfer wurden sterbliche Überreste in Massengräbern gefunden, 1 620 davon sind bis jetzt identifiziert und beigesetzt. 2 000 Menschen gelten noch immer als vermisst.)

Indessen arbeitet die Chefanklägerin des Uno-Tribunals in Den Haag, Carla Del Ponte,daran, dass die Urheber der Gräueltaten festgenommen, überführt und verurteilt werden. Zwei der wichtigsten Verantwortlichen  für das bestialische Morden in Srebrenica sind noch auf freiem Fuß: Karadzic und Mladic. Der erste ist für viele Serben ein Held, der zweite wird durch das Militär gedeckt, so heißt es. Carla Del Ponte hofft, dass die Situation sich ändern wird. Die Regierungen können es sich auf die Dauer nicht leisten, Kriegsverbrecher in ihrem Land zu dulden, und sie haben eingesehen, dass kein Weg nach Europa an Den Haag vorbeiführt. "Ich habe den Frauen von Srebrenica erklärt, dass wir nicht nachgeben werden. Für die Opfer ist es wichtig zu wissen, dass es jemanden gibt, der nicht aufgibt. Für die Opfer sind wir ein Symbol der Gerechtigkeit. Dies gibt ihnen die Kraft, weiter zu leben und weiter zu kämpfen." Sei es dank dieser Unterstützung durch die Chefanklägerin, sei es dank der deutschen Frauenorganisation Amica, die half Traumata zu verarbeiten, oder sei es kraft eines intensiven Wunsches, das Land wieder auf menschenwürdige Weise bewohnen zu können: Musliminnen und Serbinnen versuchen, den schwierigen Prozess der Versöhnung anzugehen.

"Zuerst schrieben wir uns Briefe, dann telefonierten wir miteinander, und schließlich trafen wir uns, aber zu Beginn nur heimlich, an geschützten Orten. Wir wurden von der Bevölkerung hier beschimpft und verlacht. Es brauchte viel Beharrlichkeit; aber inzwischen wird unsere Arbeit hier geschätzt."

(zitiert nach Auszügen aus: Milosevic gerät vor dem Uno-Tribunal in Bedrängnis, 10.7.03, NZZ; Die Frauen von Srebrenica setzen Zeichen der Versöhnung, 13.7.03, SonntagsZeitung; Ewige Suche nach Radovan Karadzic, 13.7.03 NZZ am Sonntag; Interview mit Carla Del Ponte, 18.7.03 NZZ)

Das Stück schildert die Ankunft von Flüchtlingen, die gerade das Massaker von Srebrenica haben miterleben müssen. Um das Furchtbare für den Zuhörer nachvollziehbar zu machen, wird es textlich in einen historischen Zusammenhang gestellt und musikalisch in distanziertem Stil und klassischer Form zum Ausdruck gebracht. Ein wichtiger, sich simultan entwickelnder Raum für die Kompositionen von Maria Porten wird von Pius Morger durch das Hinzutreten der Elektronik/Zuspielbänder geöffnet. In  11.Juli 1995 werden die unvermeidlichen Journalisten nicht mit Worten oder Musik beschrieben, sondern durch "Blitzlichtgewitter", einen Sound, der allen Fernsehzuschauern bestens bekannt ist. Beim Einspielen einer Volksliedmelodie  meldet Bekanntes sich zu Wort und wird doch zugleich in unerreichbare Ferne gerückt.

M. Porten

Srebrenica. Als der bosnisch-serbische Krieg (1992 - 1995) begann, war Srebrenica. eine vorwiegend muslimische Achttausend-Seelen-Stadt im Osten von Bosnien. Bei der Eroberung Ostbosniens durch die Serben blieb Srebrenica als "Kriegsenclave" in bosnischer Hand. Im Frühjahr 1993 wurde Srebrenica unter Unomandat gestellt und zur Schutzzone erklärt, d.h die Bürger der Stadt wurden aufgefordert, ihre Waffen abzugeben, und die Unprofor garantierte ihnen Schutz. In dieser Zeit kamen viele muslimische Flüchtlinge aus dem besetzten Ostbosnien in die geschützte Stadt, und die Zahl der Bewohner wuchs auf mehr als 40 000. Die Serben erkannten die Unoresulution nicht an und versuchten Srebrenica zu erobern. Ungefähr einen Monat hielten paramilitärische serbische Gruppen, deren Anführer (z.B. Arkan, Mladic', Karadzic') man aus dem Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag kennt, die Stadt mit schwerem Kriegsgerät umzingelt. Die Uno reagierte zwar mit Protestnoten, ihre Soldaten griffen aber, trotz vieler Warnungen und der Angst der Bevölkerung vor Gewalttaten, militärisch nicht ein. Am 11. Juli gelang den Serben die Einnahme von Srebrenica. Unter den Augen der Uno- Soldaten fand ein furchtbares Morden statt. Die Serben trieben alle Bewohner nach Potocari, einem Vorort von Srebrenica. Sie trennten die jungen Frauen und  Männer (12-65 Jährige) von den älteren Menschen und den Müttern mit Kindern. Die Alten und die Kinder wurden in Bussen und auf Lastwagen nach Tusla geschickt,  die jungen Frauen wurden vergewaltigt und umgebracht, die jungen Männer bestialisch niedergemetzelt. Viele Tausende starben in Potocari. Mindestens 7 000 Männer flohen in die Wälder der Umgebung. Bei der Hatz, die die Serben auf sie veranstalteten, erreichte nur etwa einer von fünfzig freies Terretorium. Noch heute sind viele von ihnen vermisst. Immer wieder werden Massengräber entdeckt und Tote identifiziert. Srebrenica und Ostbosnien gehören nach der Aufteilung das Landes in ethnische Bevölkerungsgruppen zur Republika Srpska. Der ehemaligen muslimischen Bevölkerung wird damit die Rückkehr in ihre Heimat erschwert. Die Soldaten, die während des Massakers in Srebrenica das Uno-Bataillon stellten, waren Holländer. Für die niederländischen Politiker gab es wegen des Nicht-Eingreifens ihrer Truppe noch ein spätes Nachspiel. Die ausführlichen Untersuchungen zu den Vorfällen (Niod-Bericht ) veranlassten im April 2002 Präsident Wim Kok  zurückzutreten, um, wie Kok es ausdrückte, ".die politische Mitverantwortung der Niederlande am Massaker in Srebrenica sichtbar zu machen." Die Soldaten seien auf eine unklare Mission in eine ungenau definierte Schutzzone geschickt worden, "um Frieden zu wahren, wo keiner war". Die Geschichte des im Stück 11.Juli 1995 verwendeten Volksliedes Nizams (Abschied) spiegelt etwas vom schwierigen Verhältnis zwischen zwei Volksgruppen, die einst friedlich miteinander lebten. Seit langer Zeit war die Melodie des Liedes in Serbien bekannt und wurde dort so häufig verwendet, dass man im ganzen Jugoslawien von einem serbischen Lied sprach. - Vor 10 Jahren fanden Musikethnologen heraus, dass es sich um ein sehr altes Lied der spanischen Juden handelt, das mit diesen im 15.Jh nach Bosnien kam und von den bosnischen Muslimen übernommen und mit einem Text versehen wurde. Heute hört man das Lied in Bosnien sehr viel, in Serbien kaum noch.

B. Trakic

Die Gangster-Patrioten. Generalsekretär Kofi Annan versucht die Untätigkeit der Vereinten Nationen (z.B. im Bosnienkrieg) zu erklären: «Viele unter uns glaub­ten, dass die Schrecken des Zweiten Weltkrieges - die Todeslager, die Mas­senvernichtung, der Holocaust - sich nie mehr wiederholen wür­den... Aber die Geschichte hat uns gelehrt, dass die Fähigkeit des Menschen, Böses zu tun, keine Grenzen kennt.» (...)
Zu den schlimmsten Barbaren gehören Staatschefs und Politiker, die - obschon sie in ihrem Land die Legalität verkörpern - tagtäglich zahlreiche Verbrechen begehen. Ihre kriminelle Energie steht jener der Herren der internationalen Kartelle der organisierten Kriminalität in keiner Weise nach. Auf eigene Rechnung oder auf jene ihres Klans plündern sie die Wirtschaft ihres Landes. Sie morden, foltern, erpressen und erwerben gewaltige Vermögen, welche meist auf diskreten Konten in Europa, häufig in der Schweiz, landen. Diese Deliquenten - Staatsoberhäupter, Führer politischer Parteien, Regierungschefs, Generäle oder Minister - genießen internationales Pre­stige, werden geehrt und umworben von Journalisten, Diplomaten und Bankern. Sie sitzen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen, halten Reden an die Welt, führen Verhandlungen und schließen internationale Verträge ab. Wo immer sie gehen, genießen sie die Privilegien und den Schutz, die ihnen dank ihrer offiziellen Position im Heimatstaat zustehen. Sie sind an der Macht dank allgemeiner Wahlen oder, häufiger, dank eines Staatsstreiches oder eines siegreichen Krieges. Im Land, das sie beherrschen, verfügen sie meist über die gesamte politische, militärische, ideologische und finanzielle Macht... Allesamt sind sie Missetäter in einem doppelten Sinn: einmal durch die strafrechtlich relevanten Verbrechen - Mord, Totschlag, Folter, Er­pres­sung -, die sie begehen oder anordnen. Zum anderen durch Verletzung des Völkerrechts, welche die Plünderung von nationalen Ressourcen darstellt.

J. Ziegler, aus: Die Barbaren kommen






Partitur
ZU ERGÄNZEN






















11. Juli 1995 - Einführung

Der Autor des Textes, Behaudin Trakic, lebt in Lukavac. Er ist Bosnjake, Muslim und politischer Journalist. Während des bosnischen Krieges war er als Waffenloser in verschiedenen humanitären Aktionen eingesetzt.

Ich lernte ihn im Herbst 1995 in Zürich kennen, wo er seine Frau und seine drei Söhne, die hier als Flüchtlinge lebten, besuchte. Er war gezeichnet von seinen furchtbaren Kriegserfahrungen.

Einer der schwersten Einsätze, sagte er, sei die Betreuung der Flüchtlinge gewesen, die man nach dem Massaker von Srebrenica zu Tausenden in Bussen und Lastwagen auf den unbenutzten Flughafen von Tusla brachte. Die meisten hätten unter Schock gestanden. Eine unheimliche Stille haber über dem Platz gelegen. Neben der psychischen Belastung sei der Einsatz bei den Helfern auch an die physische Leistungsgrenze gegangen. Drei Tage und drei Nächte hätten sie ohne Schlaf und Essen auskommen müssen. Als er sich endlich in eine Ecke hätte zurückziehen können, sei ihm eine Szene aus dem Alten Testament in den Sinn gekommen: 4. Mose 31, wo über die Ausrottung der Midianiter und die Verteilung der Beute berichtet wird. Genauso sei es in Tusla gewesen: nur alte Männer, alte Frauen und Mütter mit Kindern seien aus den Bussen gestiegen. Keine männlichen Wesen zwischen 12 und 60 und keine jungen Mädchen seien zu sehen gewesen.

Ich bat Behaudin, das Erlebte in einem Text zu formulieren, damit ich meine Anteilnahme in meiner Sprache, der Musik, zum Ausdruck bringen könne. "Ich kann nicht", sagte er immer wieder; aber er hatte ein starkes Bedürfnis, den Schmerz durch Aussprechen in den Griff zu bekommen, und schliesslich war der folgende Text entstanden.

Jetzt war es an mir zu kapitulieren. Wie drückt man "unheimliche Stille" in Tönen aus? Wie die "starren Kreise aus Angst"? Ich dachte immer wieder, ich müsste aufgeben; aber langsam begann ich Klänge zu hören, die sich zu einem musikalischen Mosaik zusammenfügten, in dem der Text die Dominanz behält und die Musik nur kommentiert.

Da gibt es z.B. die Journalisten mit ihren Blitzlichtgewittern, die den Helfern mit ihrer herzlosen Neugier auf die Nerven gehen und die allen mit ihren Kabeln im Weg sind. Unser Elektroniker macht sie hörbar, zu sagen oder zu singen haben sie nichts. Daneben ertönen die mit grosser Emotion gesprochenen oder rezitierten Kommentare der Sopranistin, die von tonmalerischen Figuren in der Violine, dem Violoncello und dem Vibrafon unterstützt werden, und der gefühlsstarke Gesang der Altistin, die uns alle um ein tröstendes Wort bittet.

Der Mann, der "wie von Sinnen" (nicht "von Sinnen", sondern "wie von Sinnen"!) den Moses zitiert, ist eine Kunstfigur, er kam auf dem Flugplatz von Tusla nicht vor. Er ist sehr wichtig, weil er das Geschehen in einen grösseren Zusammenhang stellt. Ich habe ihn als einen sehr hoch und erregt singenden Altus konzipiert. Das schreckliche Geschehen, welches die Angst der Kinder erklärt, die Ermordung beider Eltern vor ihren Augen, wird nicht in Worten, sondern im harten Trommelschlag des Perkussionisten ausgesprochen. Für die Kinder spielt die Blockflöte eine tröstende, kinderliedartige Melodie.

Das letzte Wort des Textes "Niemand kann mit solchen Bildern leben" hat ein betrunkener Soldat, hier der Bariton. "Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit", heisst es.

Mit solcher Härte kann das Stück aber nicht aufhören. Es folgt noch das alte bosnische Volkslied "Nizamski rastanak", Abschied. Es hat ebenfalls eine sehr traurige Aussage: ein junger Soldat verabschiedet sich von seiner Mutter. Es ist klar, dass er im Krieg sterben wird, aber sein Wunsch, noch einmal alle Freuden seiner Heimat zu erleben, übergiesst die Melodie mit einer sanften melancholischen Traurigkeit und hebt sich deutlich von der analytischen Härte der modernen Klänge ab. Das Lied wird vom Tenor (dem Altus von vorher) ohne jede Begleitung auf bosnisch vorgetragen. In dieser Schmucklosigkeit kommt seine tief empfundene Tragik am stärksten zum Ausdruck.

Maria Porten, 19.6.2005























Einladung zur Gedenkfeier zum 10. Jahrestag des Massakers von Srebrenica am 11. Juli 2005 in Zürich



Dr. Rustem Simitovic, Honorarkonsul von BiH in der Schweiz, übernahm das Patronat für die Aufführung von 2005 in Zürich


Nizamski rastanak, Handabschrift von Behaudin Trakic