Räume
Räume, 2002
für Vokalquartett SATB und Blockflötenquartett
Text: Durs Grünbein
I Schattenloser Raum, 1m30
II Raum im Traum, 2m30
III Tote-Fakten-Raum, 2m
IV im überheizten Raum, 3m
Dauer
9m
Uraufführung
8 JUN 2002, Zürich, Alte Kirche Wollishofen
Livemitschnitt von Schweizer Radio DRS
Bettina Willi (Sopran)
Ruth Stadelmann (Alt)
Javier Hagen (Tenor)
Ruben Drole (Bass)
Astrid Knöchlein
Samira El Ghatta
Isabelle Gichtbrock
Eveline Noth (Blockflöten)
Werkkommentar
Bei Texten wie diesen Gedichten von Durs
Grünbein, die wie in Marmor gemeisselt sind: formvollendet
und vom Inhalt her präzise und aussagestark, bin ich als
Musikerin - in Umkehrung des berühmten Mozart-Ausspruchs -
gerne der Poesie gehorsame Tochter, dh. es ist mir
wichtig, dass die Texte in ihrer Ganzheit erhalten bleiben
und die Textverständlichkeit soweit wie möglich
gewährleistet ist. Die Frage nach der Gewichtung von Wort
und Musik trat bei der ersten gleichzeitigen Verwendung
der beiden Elemente bereits auf ist seither nie verstummt.
Es war wohl immer klar, dass die Musik auch eine Sprache
ist, die die Fähigkeit besitzt "einen Gedanken ohne
stützenden Korrespondenzen als in sich sinnvoll
darzustellen" (Definition der "musikalischen Prosa" durch
Schoenberg). Jede der beiden Sprachen, die gesprochene
Sprache wie die Musik, kann ihre Aussage ohne die andere
machen, aber, da sie in verschiedenen Hirnhälften
entstehen und den Menschen auf verschiedenen
Erfahrungsebenen ansprechen, können beide sich auch
gleichzeitig äussern und sich gegenseitig ergänzen. Es
seien nur ein paar Möglichkeiten der Kombination
aufgezählt: Als der erste Mönch den wortlosen
Alleluja-Jubilus mit einem Text "unterlegte", hatte er
offenbar das Bedürfnis, der streng vorgegebenen
gregorianischen Musik eine persönliche Auslegung
"hinzuzufügen". Vielleicht brauchte er auch eine
Gedächtnisstütze und "versprachlichte" darum die endlosen
Tongirlanden. Als die Opernkomponisten im frühen 16. Jh.
einen Text "vertonten", wollten sie ihn durch die
zusätzlichen Affekte, die die Singstimme und die
Instrumental-"Begleitung" zu bieten haben, "verstärken".
Die Romantiker schickten die Gedichte "auf den Flügeln des
Gesanges" in die Weite. Strawinsky soll bei der
Komposition der Psalmensymphonie gesagt haben, er brauche
die Stimme nur als "Klangfarbe", die "Information", welche
die Worte aussprechen, sei ihm unwichtig. Ich möchte in
der vorliegenden musikalischen Arbeit - wieder einmal -
spontan und direkt einen Seiltanz zwischen beiden
Elementen versuchen: die Information, die durch die
Sprache gegeben wird, ist mir wichtig, ebenso aber auch
der Klang, den die Lektüre der Texte in mir wachgerufen
hat und den ich einzufangen versuche.
Die
Raum-Gedichte
wurden zuerst für Stimmen ohne Instrumente nach
dodekaphonischer Manier vertont. Jedem Gedicht lag eine
Reihenform derselben Reihe zugrunde. Bei einer Überarbeitung
wurde das strenge Reihenprinzip gelockert und der
sehr schwierige Stimmenpart auf Vokalquartett und
Blockflötenquartett
aufgeteilt.
I. Ein schattenloser
Raum - In der Natur gibt es nicht, das
keinen Schatten wirft.
Die Musik, die diesen widernatürlichen
Zustand in der Arbeitswelt reflektiert, ist statisch
und mechanisch,
ohne Sentiment.
Paternoster: Vaterunser bzw.
Unservater. Hier
Umlauf-Aufzug: ein
Personenaufzug, dessen vorn
offene Kabinen an zwei
endlosen Ketten hängen und mit
mässiger Geschwindigkeit
ständig in der gleichen
Richtung umlaufen. Der Autor
spielt mit beiden Bedeutungen
II. Ein Tote-Fakten-Raum - Der
Raum ist durch das
Unterdrücken der Farben
mundtot gemacht, aber dieser
Zustand
löst heftige
Gefühlsreaktionen
aus: Grausen,
Zorn. Abscheu,
Hohn. Alte
Ideale, hier
symbolisiert
durch ein "Internationale"-Fragment
im Alt, haben
keine Kraft
mehr.
Farben
per Dekret
entfärbt, Gelb
bezieht
sich
wahrscheinlich
auf den
uniformen
Anstrich
der Häuser in
der ehemaligen
DDR.
III.
Ein Raum im
Traum -
"Endlich!",
denkt man,
"etwas Schönes!"
Seit der
Romantik
assoziieren
wird das Träumen
mit der blauen
Blume, mit
Sehnsucht und
Paradies.
Verschleiert
beginnt auch hier
die Musik;
aber sofort
merkt man,
dass in diesem
Traumraum
alles verzerrt
und rückläufig
ist. Ein
zickiger
Rhythmus tritt
hervor,
erlahmt und
lässt das
tränenlose
Auge in eine
banale
Tagesrealität
dringen.
Big
Brother´s
Blick - Big
Brother is
watching you -
in George
Orwells "1984",
einer Satire
auf 1948, auf
Kommunismus
und
Revolution.
Big Brother
ist der
oberste Herr
des Systems.
IV
Im überheizten
Raum -
befinden sich
die "Gläubigen"
ohne eigenen
Glauben, die,
von Gerüchten
gesteuert, in
Angst und
Panik leben -
eng, flüchtig,
hektisch,
konturlos.
(M. Porten)
Partitur ZU ERGÄNZEN

I Schattenloser Raum
Livemitschnitt der Uraufführung in Zürich
Aufnahme: Schweizer Radio DRS2
II Raum im Traum
Livemitschnitt der Uraufführung in Zürich
Aufnahme: Schweizer Radio DRS2
III Tote-Fakten-Raum
Livemitschnitt der Uraufführung in Zürich
Aufnahme: Schweizer Radio DRS2
IV im überheizten Raum
Livemitschnitt der Uraufführung in Zürich
Aufnahme: Schweizer Radio DRS2

Titelblatt des Programmheftes der Uraufführung, 06/2002

Grusskarte von Durs Grünbein an Maria Porten, 2002

Flyer "Zeitgenössische Musik in Zürich" mit der Ankündigung der Uraufführung, 06/2002